Von Hildegard Backhaus Vink
Die Wohnbaugenossenschaft Solidarisch Wohnen bei Bern hat in den letzten Jahren ein altes Bauernhaus mit grosser Scheune zu acht Wohnungen umgebaut. Heute leben dort 30 Bewohner:innen aller Generationen. Neun von ihnen praktizieren eine «Gemeinsame Ökonomie », indem sie ihr Einkommen auf ein gemeinsames Konto überweisen lassen.
Wenige Minuten Fussweg von der S-Bahn in Urtenen, 15 Minuten von Bern entfernt, sticht ein imposantes Bauernhaus mit Fachwerk, Tenne und traditionellem Berner Walmdach ins Auge. Hier haben 20 Erwachsene und acht Kinder ihr Zuhause. Bis es ihr Zuhause war, mussten sie allerdings einen Weg voller Hindernisse zurücklegen.
«2012 ging ich mit zwei Freund:innen an einen Vortrag über ‹Gemeinsame Ökonomie›», beginnt Jannik Böhm zu erzählen, als wir uns an dem langen Gartentisch hinter dem Haus niedergelassen haben. «Danach waren wir wie elektrisiert und wollten so etwas auch ausprobieren». Mit weiteren Freund:innen gründeten sie eine Wohngemeinschaft und richteten einen gemeinsamen Geldtopf ein, aus dem das Leben bestritten wurde. «Bis heute praktizieren wir eine ‹Gemeinsame Einkommensökonomie›», erklärt Jannik Böhm. «Unsere Löhne und Einkommen – nicht aber das Vermögen, z. B. ein Erbe – gehen auf ein gemeinsames Konto». Gibt es Diskussionen, wenn sich eine:r mehr nimmt als andere? «Nein, gar nicht. Wir haben immer genug Geld, obwohl wir über moderate Einkommen verfügen», antwortet Jannik Böhm überzeugend. «Denn wir sparen durch die gemeinsame Nutzung von Ressourcen viele Kosten.»
Nach einiger Zeit kam in der Gemeinschaft der Wunsch auf, ein eigenes Haus zu erwerben. Sie stiess zufällig auf das Bauernhaus in Urtenen. «Das Haus entsprach genau unserer Vorstellung, wie unsere mittlerweile vier Kinder aufwachsen sollten: stadtnah und doch im Grünen mit einem grossen Umschwung von 4‘000 Quadratmetern», schwärmt Jannik Böhm. «Aber es hatte zwei Haken: Es sollte 2,8 Millionen Franken kosten und es hatte nur zwei Schlafzimmer.» Ein Teil des Hauses war an ein Restaurant verpachtet und die ehemalige, riesige Scheune wurde von einem Brockenhaus als Lager genutzt. Das Traumhaus schien in weiter Ferne gerückt.
«Wir wollten aber nicht so schnell aufgeben», erzählt Jannik Böhm weiter. Als erstes musste die Finanzierungsfrage geklärt werden. Da die Vorbesitzer auf einen schnellen Verkauf drängten, musste die Gemeinschaft rund 1 Million Franken Eigenkapital und 50‘000 Franken Reservationsgebühr innerhalb von neun Tagen aufbringen – fast ein Ding der Unmöglichkeit. «Und dennoch ist uns das gelungen », berichtet Jannik Böhm stolz. «Möglich wurde dies, weil wir eine Genossenschaft wurden, indem wir die bereits existierende, aber praktisch inaktive Genossenschaft «Solidarisch Wohnen – Sowo» mit deren Einverständnis übernahmen. Dadurch konnten wir Anteilscheine ausgeben und Darlehen aus der Darlehenskasse der Genossenschaft aufnehmen.» Als Partnerbank kam für die neu aufgestellte Wohnbaugenossenschaft Sowo nur die Freie Gemeinschaftsbank in Frage. «Die Art, wie die Freie Gemeinschaftsbank mit Geld umgeht und sich damals in der Vollgeldinitiative positioniert hatte, passte am besten
zu uns», erinnert sich Jannik Böhm.
Das Haus sollte acht Wohnungen erhalten, die in die riesige Scheune auf zwei neuen Stockwerken eingebaut werden sollten. Im Zuge der Planung tauchten jedoch unvorhergesehene Schwierigkeiten auf: Die Leistung der Wärmepumpe war für den erweiterten Wohnraum zu gering, es gab Auflagen beim Denkmal- und Brandschutz und die Statik musste wegen der neuen Stockwerke erneuert werden. «Aber wir haben an den Bau geglaubt und gemeinsam den Entschluss gefasst: Ja, wir machen das», bekräftigt Jannik Böhm. Das Bau-Abenteuer konnte beginnen. Kooperieren und teilen
«Der Nachbar hatte eine Schnitzelheizung, die lokale Holzschnitzel nutzte», fährt Jannik Böhm in seiner Erzählung
fort. «Da haben wir uns gefragt: Könnten wir uns nicht dort anschliessen, wenn wir dem Nachbarn im Gegenzug Wärme unserer Solarthermieanlage zur Verfügung stellen? » Der Nachbar liess sich von den Vorteilen einer Kooperation überzeugen und willigte ein. Auf diese Weise sparte die Genossenschaft 100’000 Franken.
Zusammenarbeit und Beziehung waren auch die entscheidenden Faktoren für den Fortschritt des Um- und Ausbaus: Die Genossenschaft stellte Handwerker:innen zu angemessenen Löhnen an, die mit zahlreichen Freiwilligen eine grosse Baugemeinschaft bildeten. «Morgens und mittags haben wir gemeinsam gegessen», erzählt Jannik Böhm. «Das schaffte eine Beziehungsqualität, die nicht zu unterschätzen ist.» Durch die gelungene Zusammenarbeit innerhalb der Baugemeinschaft konnte der Bau schneller und zudem kostengünstiger fertiggestellt werden als geplant. «Das kommt bei Bauprojekten eher selten vor.», schmunzelt Jannik Böhm.
Gleichzeitig mit dem Bau bildete sich die Wohngemeinschaft,
die langsam wuchs. 2020 folgte dann das «Happy End»: Der Bau war vollendet und die Gemeinschaft bezog ihr liebevoll ausgebautes neues Domizil, um ein «gemeinsames, enkeltaugliches Leben zu gestalten», so Jannik Böhm. Das Traumhaus war verwirklicht, das neue Abenteuer des Zusammenlebens konnte beginnen.
Erklärt: Wohnbaugenossenschaft Sowo
Das Bauernhaus in Urtenen wurde mit lokalem Holz und weiteren ökologischen Materialien hochwertig und behutsam um- und ausgebaut. Die alten Stützbalken blieben im ganzen Haus erhalten und ziehen
sich sichtbar durch manche Wohnungen hindurch. In die ehemalige grosse Scheune wurden zwei Stockwerke mit acht Wohnungen eingezogen, die mit Türen verbunden sind, so dass man nach Bedarf grössere oder kleinere Wohnungen gestalten kann.
Das Dach wurde gegen Hitze und Kälte isoliert und als Energiedach mit Solarpanels für Strom- und Warmwassererzeugung angelegt. Damit trotz tiefem Walmdach genug Licht in die Wohnungen hereinkommt, wurden auf der Rückseite Fenster und sogar ein Balkon in das Dach hineingebaut, auf der Vorderseite wegen des Denkmalschutzes lichtdurchlässige Dachziegel aus Glas.
Der grosse Garten mit altem Baumbestand wurde als Permakulturgarten angelegt und hat mehrere Spiel- und Sitzplätze. Das Haus verfügt über eine gut ausgestattete Schreinereiwerkstatt, eine Sauna, einen grossen Lagerraum für die Essensvorräte, eine professionell eingerichtete Grossküche, ein 70 qm- Esszimmer und weitere grosse Gemeinschaftsräume.
Die Miet- und Essensbeiträge werden in einem «Mietbazar» und einem «Essensbazar» festgelegt. Dort werden die effektiven Kosten offengelegt – so viel Miete wird benötigt, so viel kostet das Essen – und danach kann jede:r ihren oder seinen Beitrag festlegen. Dabei gibt es auch objektive Massstäbe wie Wohnungsgrösse und Anwesenheit beim Essen. Für die täglichen Haushaltsaufgaben, z. B. Kochen und Abwaschen, verabreden sich die Bewohner:innen per selbst programmierter App; für bestimmte Aufgaben wurden Arbeitsgruppen eingerichtet. So kümmert sich die AG Essen um die Grossbestellung bei Bio Partner Schweiz.